Die Feindesliebe klingt für viele Menschen sicherlich wie eine Romantisierung, die vielleicht Idealvorstellungen entspricht, aber doch nicht wirklich realisierbar ist. Wie soll ich denn genau die Menschen, die mir feindselig gegenüberstehen, mir nachstellen oder sogar furchtbare Gräueltaten angetan haben, wirklich lieben? Nur weil Jesus mir diese Lehre schenkt und mich davon überzeugen möchte, um ein erfülltes Leben zu führen, heißt es doch noch lange nicht, dass dies auch gelingen kann – egal wie sehr ich es versuche und mir selbst wünsche, die Feindesliebe leben zu können.
Ich denke, dass die Perspektive eine andere sein kann. Denn Feindesliebe bedeutet nicht, dass wir keine negativen Gefühle anderen gegenüber empfinden sollen oder dürfen. Es ist sowieso nicht möglich, vorhandene Empfindungen wegzudrücken und wenn wir es versuchen, endet dies in schmerzhafter Verdrängung, die wiederum ihre Symptome zeigt. Sicherlich wünscht sich Jesus, dass wir niemandem gegenüber Hass und Gräuel empfinden. Denn Hass beinhaltet Aggressionen und Vergeltungsbedürfnisse, die sicherlich nicht viel Liebvolles an sich und zur Folge haben. Etwas Anderes dagegen ist das Empfinden von Wut. Natürlich ist Wut ein negatives Gefühl, doch es hat seine Berechtigung und ist wichtig zur Verarbeitung von schlechten Erfahrungen, Konflikten oder sogar tiefgreifenden Verletzungen sowie Enttäuschungen durch andere Menschen. Der große Unterschied zwischen Hass und Wut ist jedoch: Wut will Heilung und Gerechtigkeit herbeiführen – Hass dagegen sucht Vergeltung, das Leiden des anderen oder sogar Vernichtung.
Damit möchte ich sagen, dass wir unsere Feinde lieben können, auch wenn wir wütend auf sie sind. Die Wut ganzheitlich zu durchleben und sozusagen auszutragen, bringt Heilung, schenkt Selbstwirksamkeit und führt Gerechtigkeit herbei. Wir spüren durch die Wut keine Angst, sondern sind sicherer in unseren Entscheidungen und schätzen Risiken optimistischer ein. Ein gutes Beispiel ist auch, dass wir durch Wut die Opfer entschädigen wollen, bevor die Täter gestraft werden. Somit fördert die Wut tatsächlich auch prosoziales Verhalten.
Das ausgewählte Bild zeigt eine wütende Person, die ihre Wut aber auch ihr Herz in den Armen hält und weiter voranschreitet bzw. weiterträgt – auf die Mitmenschen zu ohne Hass und Gewalt, sondern mit dem Ziel des wieder Aufeinanderzugehens. Denn es ist uns aufgegeben, mehr zu tun, als wir können und mehr zu werden, als wir sind.
Thale Schmitz
Evangelium:
Lk 6, 27–38: Liebe deine Feinde
27 „Euch allen, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen. 28 Segnet die Menschen, die euch Böses wünschen, und betet für alle, die euch beleidigen. 29 Schlägt dich jemand auf die Wange, dann halte ihm die andere hin. Wenn dir einer den Mantel wegnimmt, dann weigere dich nicht, ihm auch das Hemd zu geben. 30 Gib jedem, der dich um etwas, und fordere nicht zurück, was man dir weggenommen hat. 31 Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt. 32 Oder wollt ihr dafür belohnt werden, dass ihr die Menschen liebt, die euch auch lieben? Das tun auch jene, die nicht mit Gott verbunden sind. 33 Ist es etwas Besonderes, denen Gutes zu tun, die auch zu euch gut sind? Das können auch Menschen, die nicht nach Gott fragen. 34 Was ist schon dabei, Leuten Geld zu leihen, von denen man weiß, dass sie es zurückzahlen? Auch sündige Menschen leihen ihresgleichen, damit sie es wieder zurückerhalten. 35 Ihr aber sollt auch eure Feinde lieben. Ja, ihr sollt allen Menschen Gutes tun und ihnen helfen, ohne einen Dank oder eine Gegenleistung zu erwarten. Gott wird euch reich belohnen und ihr werdet seine Söhne und Töchter sein. Denn auch er ist gütig zu bösen und undankbaren Menschen.“